Religion und Künstliche Intelligenz

Eine Kollegin am Department für Information Technologies und Digitalisation ist in Fragen zu Künstlicher Intelligenz (KI) auf mich zugegangen. Im lockeren Gespräch haben sich Grundfragen zum Verhältnis von Religion und Künstlicher Intelligenz ergeben. Dieser Blog-Artikel ist der Versuch Gedanken zu diesem Thema zu ordnen.

Einleitung

Das Verhältnis von Religion und KI-Systemen kann man von verschiedenen Seiten beleuchten, etwa in Hinblick auf die Ausübung von Religion oder das Verarbeiten alter religiöser Texte, wo Methoden der KI möglicherweise hilfreich sein können. Diese Aspekte handeln also von Religion für Menschen, unterstützt durch Technik oder KI. Im folgenden Artikel wollen wir allerdings die Frage nach der Religion oder Religiösität für Maschinen stellen.

Das bloße Aufwerfen dieser Frage erscheint unerhört provokant, jedenfalls deutlich provokanter als die Frage nach Moral für KI, denn es berührt unter Umständen höchst persönliche Glaubensfragen.

Im folgenden versuchen wir einen Zugang zu diesem schwierigen Thema zu wählen, der analog zum Zugang von Catrin Misselhorn1 in ihrem Buch Grundfragen der Maschinenethik ist. Wir sehen jedenfalls gewisse Analogien: Technikethik ist Ethik für Menschen im Umgang mit Technik, während Maschinenethik die Ethik für Maschinen ist. Hier soll es also um die Übertragung von Fragen der Maschinenethik auf Religion gehen. Das heißt, analog zur Maschinenethik ist die Maschine der Akteuer und wir fragen:

Kann eine Maschine ein religöser Akteur sein?

Was diese Frage genau bedeuten kann, wollen wir diskutieren. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Frage, ob eine Maschine religiös sein kann, nicht die gleiche ist!

Religion

Man kann zwischen Moral und Ethik wie folgt unterscheiden: Moral bezeichnet gelebte gesellschaftliche Normen und Wertevorstellungen, während Ethik die Philosophie über die Moral ist. Normative Ethik erarbeitet Normen und deskriptive Ethik beschreibt gelebte Moral, siehe weitere Details hier.

Religion handelt vom Glauben an Transzendentes. Religionen entwickeln im Allgemeinen eine normative Kraft (Handlungsanweisungen, Gesetze, Moral), aus ihnen erwächst eine Weltanschauung und sie wird auch zur Erklärung von Phänomenen der Welt herangezogen.

Die Lehre oder Wissenschaft über die Religion teilt sich auf mehrere Disziplinen auf, darunter die jeweiligen Theologien, die Religionswissenschaft und die Religionsphilosophie.

Religiöse Akteure

Die Frage, ob eine Maschine ein religiöser Akteur sein kann, würde ich gerne (im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten) im Licht der Religionsphilosophie betrachten. Hierfür wollen wir zunächst klären, was man unter einem religiösen Akteur verstehen kann. Das Wesensmerkmal eines Akteurs besteht im Setzen von Handlungen, und damit richtet sich unsere Frage also nach der religiösen Handlung.

Wir versuchen uns im folgenden an einem Transfer der vier Ausbaustufen von moralischen Akteuren nach Moor, wie wir das bei Misselhorn nachlesen können, siehe auch hier:

  1. Religious impact agent: Dieser würde selbst keine religiösen Handlungen setzen, aber Folgen von religiöser Relevanz haben. Das Beispiel der Uhr wurde bei ethical impact agents in Hinblick auf die Tugend der Pünktlichkeit genannt. Als religious impact agent kann es auch in Hinblick auf die Ausübung religiöser Praktiken zu bestimmten Zeiten herangezogen werden.

  2. Implicit religious agent: Dieser setzt Handlungen, in denen sich implizit auch eine religiöse Vorstellung wiederfindet. Die FH Salzburg macht jährlich bei der Charity Challenge mit: Ein Spendengeld hängt hierbei von gesammelten Laufkilometern von Mitarbeitern ab. Softwareagenten holen dafür etwa automatisch die Laufkilometer meiner Sportuhr ab. Implizit dienen diese also dem Prinzip der Nächstenliebe.

  3. Explicit religious agent: Diese treffen explizit religiöse Handlungsentscheidungen. Ein Beispiel könnte ein Snack-Automat sein, der einen Personalausweis entgegennimmt und abhängig von der Konfession der Person die Ausgabe von bestimmten Produkten verweigert, etwa in Hinblick auf Fastenzeiten oder Zutaten der Speisen.

    Es sei darauf hingewiesen, dass Art. 9 DSGVO die Verarbeitung von personenbezogenen Daten, aus denen religiöse Überzeugungen hervorgehen, untersagt, bis auf Ausnahmen, etwa die ausdrückliche Einwilligung der betroffenen Person für einen festgelegten Zweck (wobei auch diese Ausnahme ausgenommen sein kann).

  4. Fully religious agent: Dieser würde über Bewusstsein und über Spiritualität verfügen.

Die Vorstellung von der Existenz eines fully religious agent erscheint mir ausgesprochen provokant und berührt viele grundlegende Fragen des Menschen an sich.

Ein Wesensmerkmal von Akteuren ist das Setzen von Handlungen.2 Im Kontext von Maschinenethik diskutiert Misselhorn die Frage nach der prinzipiellen Handlungsfähigkeit von Maschinen. Hier ergibt sich zusammenfassend, dass die Realisierbarkeit von künstlich moralischen Akteuren (explicit ethical agent), oder zumindest der Eindruck dieser, gegeben ist. Analog können wir die Argumentation auf explizite religiöse Akteure übertragen.

Turing-Test für Spiritualität

Den Turing-Test könnte man als phänomenologische3 Überprüfung für das Vorhandensein von Intelligenz auffassen. Es stellt sich in Analogie die Frage, ob man eine ähnliche Überprüfung für das Vorhandensein von Spiritualität nach äußeren Erscheinungen formulieren kann.

Büssing4 etwa führt eine Reihe von Ausdrucksformen von Spiritualität auf, darunter Gottvertrauen, Dankbarkeit, Mitgefühl, oder Gebetsausübung. Einige dieser Aspekte lassen sich nicht als äußere Erscheinungsform beobachten, wie Gottvertrauen. Manche zeigen sich möglicherweise als äußere Erscheinung, etwa Dankbarkeit. Und manche beschreiben Verhaltensweisen, wie die Gebetsausübung, welche potentiell beobachtbar sein können.

Rudolf Sponsel listet explizit auf, wie sich Spiritualität im Alltag zeigen kann, etwa Aufwach- und Aufstehrituale, Medidation, Dankgebet, Musikhören, Aufmerksamkeit gezielt richten, bewusstes Atmen, Zuwendung an eine Tätigkeit, Sinnsprüche auf sich wirken lassen.

Einige der angeführten Verhaltensweisen würden sich passiv beobachten lassen. Im Turing-Test treten wir allerdings in Dialog, in Interaktion, und potentiell auch in Interrogation. Einige der oben angeführten Verhaltensweisen durch Spiritualität lassen sich schwer passiv beobachten und so könnte man auch hier das Testszenario des Dialogs zur Feststellung von Spiritualität denken.

Technische Implementierungen

Wir könnten versucht sein auch für die technische Implementierung von religiösen Akteuren die Analogie zu moralischen Akteuren zu ziehen. Allerdings ist in dem Zusammenhang das Gebiet der Moral anders strukturiert als jenes der Religion: Die normative Ethik erarbeitet Normen, etwa den Utilitarismus oder die Kantische Ethik. Das Analogon hierzu wäre eine Art normative Religionsphilosophie, welche konkrete Religionen, analog zu ethischen Normen, erarbeitet. Dergleichen gibt es nicht. Was es gibt ist sozusagen das Gegenstück zur deskriptiven Ethik, also die konkreten Theologien, die Religionswissenschaft und Religionsphilosophie, welche bestehende Religionen zum Gegenstand haben.

Misselhorn unterscheidet zwei prinzipielle Ansätze für Implementierungen von moralischen Akteuren:

  1. Top-Down Ansätze gehen von normativen Ethiken (top) aus und es stellt sich die Frage nach möglichen technischen Umsetzungen.

  2. Bottom-Up Ansätze gehen von konkreten Handlungsentscheidungen (bottom) aus und es stellt sich die Frage nach einer verallgemeinerten technischen Umsetzungen.

Top-Down Ansatz

Das Fehlen der „normativen Religionsphilosophie“ bedeutet, dass Top-Down Ansätze sich auf bestehende Religionen als Ausgangspunkt beziehen. Im Bereich von moralischen Akteuren ist es jedenfalls prinzipiell denkbar, dass ein logisches Deduktionssystem aus Axiomen, etwa von der Art der Kantischen Pflichtenethik, moralische Schlüsse herleitet.5 Auch der Utilitarismus ließe sich geradezu auf natürliche Art im Performancemaß von intelligenten Akteuren formal abbilden.

Im Bereich der Religion fehlt es uns aber an einer derartigen Formalisierung von Religionen. Das bedeutet, dass Teilaspekte von Religionen taxativ abgebildet werden müssten, um religiöse Handlungen in einem eng abgesteckten Anwendungsbereich abzudecken. Als Beispiel könnten wir den bereits erwähnten Snack-Automaten anführen.

Bottom-Up Ansatz

Für religiöse Akteure bedeutet dieser Ansatz, dass wir von Beispielen konkreter religiöser Handlungen ausgehen. Die Generalisierung vom Konkreten zum Allgemeinen ist Aufgabe des technischen Systems. Hierzu bieten sich aus dem Bereich des maschinellen Lernens verschiedene Ansätze an:

  1. Reinforcement Learning: Ein Agent interagiert mit einer Umgebung in der Weise, dass es Aktionen aus einem definierten Aktionsraum setzt, dadurch in der Umgebung eine Zustandsänderung vorgenommen wird, und der neue Zustand samt einer unmittelbaren Belohnung (reward) dem Agenten mitgeteilt wird. Das Lernziel des Reinforcement Learning ist die Maximierung der kumulative Belohnung.

    In der Belohnung können sich religiös motivierte Aspekte niederschlagen. Diese mögen expliziter oder impliziter Natur sein, wodurch der resultierende Agent im obigen Sinn ein expliziter oder impliziter religiöser Akteur wird.

    Da die Festlegung der Belohnung der Programmierer·innen obliegt, ist es durchaus denkbar, dass in bereits bestehenden technischen Systemen religiöse Sozialisierung der Programmierer·innen Einfluss hatten und die resultierenden Akteure somit implizite religiöse Akteure darstellen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn die religiöse Sozialisierung Einfluss auf relevante moralische Normen hat, die sich in der Belohnung oder Bestrafung über positive oder negative Belohnung niederschlägt. In dem Sinn schlägt sich die religiöse Sozialisierung der Programmier·innen in die „Sozialisierung“ des Reinforcement Learning Agenten nieder. (Man könnte an eine Art religiöse Erziehung denken.)

  2. Supervised Learning: Das Lernziel von Supervised Learning besteht im Lernen einer Funktion \(X \to Y\) mit endlichen Vektorräumen \(X\) und \(Y\), welche durch Beispielspaare \((x_i, y_i) \in X \times Y\) gegeben ist.

    Am Beispiel von religiösen Akteuren könnten wir etwa \(m\) religiöse Handlungsoptionen betrachten und durch \(Y = [0, 1]^m\) jeder der Handlungen eine Präferenz aus dem Intervall \([0, 1]\) zuordnen. Zu diesen Präferenzen kommen wir basierend auf Informationen oder Wahrnehmungen oder Zustände, die zusammen einen Eingaberaum \(X\) darstellen.

Zusammenfassung

Ausgehend von der Frage zum Verhältnis von Religion und Künstlicher Intelligenz haben wir verschiedene Aspekte von Maschinenethik von der Moral auf die Religion in Analogie übersetzt, etwa in Hinblick auf die Ausbaustufen von Akteuren nach Moor oder den prinzipiellen Ansätzen für technische Umsetzungen.

Diese Analogien haben natürlich Grenzen, so etwa gibt es das Gebiet der normativen Ethik, aber nicht die normative Religionsphilosophie oder normative Religionswissenschaft. Konkrete normative Ethiken, wie die Kantische Ethik oder der Utilitarismus, können aus philosophischen Überlegungen heraus entwickelt werden, aber Religionen entstehen nicht auf diese Weise. Das hat Folgen für technische Umsetzungen.

Wir können auch von Religionsfreiheit (als Grund- und Menschenrecht) sprechen, also der Freiheit eine Religion (nicht) auszuüben, wodurch Glaubensfragen als individuelle und persönliche Sache anzusehen sind. Aber in dieser Analogie gibt es keine Moral- oder Ethikfreiheit. Das hat Folgen für Anwendungsbereiche von künstlichen religiösen Akteuren.

  1. Catrin Misselhorn ist Philosophin, hatte bis 2019 den Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart inne und ist 2019 Professorin an der Universität Göttingen. 

  2. Akteure interagieren mit einer Umwelt durch das Empfangen von Wahrnehmungen und das Setzen von Aktionen. Dies entspricht dem Standardmodell von intelligenten Agenten. 

  3. Der Turing-Test überprüft Vorhandensein oder Abwesenheit von äußeren Erscheinungen von Intelligenz in einem Dialog; er kümmert sicher nicht um innere Mechanismen von Intelligenz (z.B. in einer Maschine). Ob aber tatsächlich ein strenger Bezug zur philosophischen Strömung der Phänomenologie besteht, ist mir nicht bekannt. Hinsichtlich philosophischer Hintergründe des Turing-Tests soll Turing von Descartes’ Sprachtest (language test) gewusst (see §3.4) haben. 

  4. Arndt Büssing, 2007, Spiritualität, Krankheit und Heilung - Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin, ISBN 978-3888644214. 

  5. Praktisch erscheint mir das aussichtslos, da eine vollständig Formalisierung des relevanten Sachverhalts einerseits praktisch schnell ausufert und dann die Deduktionsleistung selbst von aktuellen Systemen, wie dem Microsoft z3, wohl rasch an Grenzen stoßen.